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Holocaust-Gedenken: Erinnerung an Anne Frank – "Ihre Rache an Hitler"


Tochter von Anne Franks Freundin
"Das war ihre Rache an Hitler"

InterviewVon Marc von Lüpke

26.01.2024Lesedauer: 9 Min.
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Anne Frank und Hannah Pick-Goslar: Die beiden verband eine enge Freundschaft.Vergrößern des Bildes
Anne Frank (l.) und Hannah Pick-Goslar: Die beiden verband eine enge Freundschaft. (Quelle: Anne Frank Fonds Basel/getty-images-bilder)

Anne Frank starb 1945 im Holocaust – ihre beste Freundin Hannah Pick-Goslar machte es sich zur Lebensaufgabe, ihr Andenken zu bewahren. Im Interview erzählt Ruthie Meir, Pick-Goslars Tochter, wie ihr das gelang. Und wie ihre Mutter den Nationalsozialismus überlebte.

Im Konzentrationslager Bergen-Belsen starb 1945 Anne Frank, sie wurde nur 15 Jahre alt. Jahre später lasen Millionen Menschen ihr Tagebuch, das ihr Schicksal weltbekannt machte. Doch nur wenige Menschen konnten persönlich von ihr erzählen. Hannah Pick-Goslar, die Bergen-Belsen überlebt hatte, war einer dieser Menschen: Sie war eine enge Freundin von Anne Frank im niederländischen Exil gewesen.

Hannah Pick-Goslar starb 2022 noch vor Erscheinen ihres Buch "Meine Freundin Anne Frank. Die Geschichte unserer Freundschaft und mein Leben nach dem Holocaust". Doch ihre Tochter Ruthie Meir hält die Erinnerung wach: Im Interview berichtet sie, wie ihre Mutter den Holocaust überlebte, wie groß deren Freundschaft zu Anne Frank gewesen ist und wie die Welt friedlicher werden könnte.

Video | Holocaust: Was 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz bleibt
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Quelle: t-online

t-online: Frau Meir, Sie sind mit der Erinnerung an einen Menschen aufgewachsen, den Sie niemals persönlich erleben konnten: Anne Frank starb 1945 im Holocaust. Wie war es, diese berühmte Persönlichkeit aus der Erinnerung ihrer Mutter Hannah Pick-Goslar kennenzulernen?

Ruthie Meir: Anne Frank war in unserem Zuhause allgegenwärtig. Meine Mutter Hannah hat ständig über sie gesprochen, wir Kinder wuchsen mit Anne Frank auf – wenn man das so sagen kann. Aber meine Mutter war es nicht allein, die uns von Anne berichtet hat.

Sie meinen Otto Frank, Annes Vater, der als einziger aus der Familie den Holocaust überlebt hatte?

Wir nannten ihn Onkel Otto, unsere Familie war in beständigem Kontakt mit ihm. Otto Frank schrieb meiner Mutter und uns Briefe nach Israel, sehr warm und sehr innig, er mochte Kinder sehr.

1947 gab Otto Frank das Tagebuch seiner toten Tochter heraus, das Anne Frank auf der ganzen Welt bekannt machte. Und in gewisser Weise auch Ihre Mutter. Wie ging Hannah Pick-Goslar damit um?

Meine Mutter fand es faszinierend, dass Millionen Fremde in Annes Tagebuch lasen. So etwas ist eigentlich eine intime Angelegenheit. Dabei hatte Otto Frank zunächst händeringend nach einem Verlag suchen müssen, schließlich wurde Annes Tagebuch aber zu einem unfassbaren Erfolg. Meine Mutter war hingegen in dieser Zeit mit ihrer eigenen Familie beschäftigt, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hat sie nie selbst angestrebt. Das war ihr eher unangenehm. Aber sie spürte eine Verantwortung.

Zur Person

Ruthie Meir, 1956 in Jerusalem geboren, ist die Tochter von Hannah Pick-Goslar und selbst Mutter von acht Kindern. Bei der Entstehung des Buches "Meine Freundin Anne Frank. Die Geschichte unserer Freundschaft und mein Leben nach dem Holocaust" von 2023 unterstützte Ruthie Meir ihre Mutter; sie will sich auch zukünftig für die Bewahrung ihres Andenkens einsetzen.

Der Hannah Pick-Goslar auch nachkam, als sie 1957 als beste Freundin Anne Franks endgültig international bekannt wurde.

Mein Vater war dafür verantwortlich. Seit 1955 wurde Annes Tagebuch in einer Theaterfassung aufgeführt, zwei Jahre später kam das Stück nach Israel. Mein Vater, Walter Pinchas Pick, telefonierte daraufhin mit einem Journalisten – und erzählte ihm, dass Hannah einst eng mit Anne befreundet gewesen ist. Später brachte ein Bote VIP-Karten für meine Eltern, am Premierenabend saßen sie dann neben Israels Präsident und seiner Frau. Von da ab drehte sich unser ganzes Leben um Anne Frank. Journalisten aus Israel und anderen Ländern rund um die Welt wollten mit meiner Mutter sprechen und mehr erfahren über die Frau, die Anne Franks Freundin war.

Wie war Ihre Mutter?

Meine Mutter war eine überaus lebensfrohe und glückliche Persönlichkeit, sie hatte Humor und war von immenser Stärke. Immer hat sie zuerst an andere gedacht, sie hatte auch den Beruf der Krankenschwester ergriffen. So war Hannah bis zum Ende ihres Lebens. Mir hat sie in schweren Zeiten sehr geholfen, besonders als mein Mann vor 27 Jahren starb. Hannah ging mit den Enkeln auf Feiern, alle waren neidisch auf diese tolle Großmutter! Selbst in ihren letzten Tagen machte Hannah sich Gedanken, was dieses Enkelkind nun brauchen würde oder jenes.

1942 starb Hannahs Mutter im Exil in den Niederlanden, in die Ihre Familie vor den Nationalsozialisten geflüchtet war. Hannah Pick-Goslar sorgte danach für ihre kleine Schwester Gabi mit. Rührt daher das Engagement Ihrer Mutter für andere Menschen?

Ich vermute es. Meine Mutter tat dann alles, um ihrem Vater mit Gabi zu helfen. Aber meine Mutter hatte auch eine einnehmende Persönlichkeit, jeder, der sie sah, wollte sie besser kennenlernen. Sie musste so viel Grausames durchleben, hat aber niemals Mut und Zuversicht verloren. Meine Schwiegermutter hingegen ist in Auschwitz gewesen, sie konnte aber nie wieder richtig glücklich sein.

Sprechen wir über diese Zeit. Ihr Großvater Hans Goslar, preußischer Ministerialrat und Gegner der Nationalsozialisten, wollte 1933 seine Familie in Sicherheit bringen und ging nach England. Warum blieb er nicht dort?

In Deutschland bestand große Gefahr, deswegen hatte sich mein Großvater Arbeit bei Unilever in London besorgt. Dort erwartete ihn eine Überraschung: Er sollte samstags, am Schabbat, arbeiten. Mein Großvater hielt sich aber streng an die Mitzwot …

… die jüdischen Gebote.

Genau. Besonders das Gebot des Schabbats war für ihn von großer Bedeutung. Also kündigte er – und die Familie zog nach Amsterdam.

Wie verkraftete Ihre Mutter den erneuten Umzug?

Der Abschied von Deutschland und Berlin war schwieriger gewesen. Den Tiergarten hatte meine Mutter besonders geliebt. In Amsterdam war der Neuanfang schwer, obwohl mein Großvater die Stadt als "Jerusalem des Westens" ansah. Allerdings geschah auch ein großes Glück dort.

Weil Ihre Mutter dort Anne Frank traf? In ihrem Buch "Meine Freundin Anne Frank. Die Geschichte unserer Freundschaft und mein Leben nach dem Holocaust" beschreibt sie die Szene eindrücklich.

Ja. Eines Tages ging Hannah an der Hand ihrer Mutter einkaufen. In einem Geschäft entdeckten sie ein anderes Paar bestehend aus Mutter und Tochter, die auch noch Deutsch sprachen! Die Mütter begannen sofort ein Gespräch, aber die beiden Mädchen – meine Mutter im Alter von fünf Jahren und Anne Frank mit Pagenfrisur – sagten kein Wort zueinander.

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Das sollte sich aber noch ändern.

Und wie! Meine Mutter hatte große Angst vor dem Kindergarten, in den sie zukünftig gehen sollte. Sie beherrschte die Sprache nicht, wie sollte das gehen? Am ersten Tag weinte sie, wollte nicht dorthin. Doch als sie in den Raum kam, sah sie das Mädchen aus dem Laden. Sie umarmten sich und eine Freundschaft begann. Nicht nur zwischen Anne und Hanneli, wie meine Mutter gerufen wurde, sondern auch zwischen den Familien Goslar und Frank, die ihrerseits wegen der Nazis Frankfurt am Main verlassen hatte.

Dazu kam auch die Familie Ledermann mit ihrer Tochter Susanne, die sich mit Anne und Ihrer Mutter anfreundete. Man nannte sie zusammen "Anne, Hanne, Sanne".

So ist es. In gewisser Weise konnten diese Familien in Amsterdam ein nahezu normales Leben führen im Vergleich zu Deutschland, wo die Nazis herrschten. Allerdings konnte niemand die Augen davor verschließen, was Hitler in Deutschland Furchtbares anrichtete. Mein Großvater und Herr Ledermann verwirklichten deswegen den Plan, ein Beratungsbüro für jüdische Flüchtlinge einzurichten. Meine Großmutter half als Sekretärin mit.

Nach der Besetzung der Niederlande 1940 durch die Wehrmacht kam der Terror der Nationalsozialisten auch nach Amsterdam. Wie erging es Ihrer Familie?

Dann fielen die Deutschen ein, ja. Die Verfolgung geschah allerdings schleichender als im Osten, in Polen oder später der Sowjetunion. Juden durften nicht mehr ins Schwimmbad, dann durften sie nicht mehr auf Bänken sitzen. Schließlich nahmen sie ihnen die Radios und Fahrräder weg. Theaterbesuche oder Fahrten mit der Straßenbahn? Alles verboten! Meine Mutter sagte immer, dass die Nazis ihnen alles wegnahmen, was das Leben etwas schöner macht. Später mussten Juden dann den "Judenstern" tragen.

Sie lebten in ständiger Furcht vor der Deportation.

Manche versteckten sich, andere versuchten, in ein sicheres Land zu gelangen. 1942 stellte meine Mutter eines Tages fest, dass die Familie Frank verschwunden war. Es hieß, sie seien in die Schweiz gegangen. Der Schock war groß, denn niemand hatte etwas davon geahnt, trotz der engen Freundschaft zwischen den Familien und besonders Anne und Hannah. Vor allem fragten sie sich, wie die Franks das geschafft hatten? Die Nazis waren doch überall!

In Wirklichkeit versteckten sich die Franks zusammen mit anderen in einem Versteck in der Amsterdamer Prinsengracht 263. Warum war Ihre Familie nicht eingeweiht?

Absolute Geheimhaltung war überlebenswichtig, meine Tante Gabi, Hannahs Schwester, war gerade zwei Jahre alt, meine Großmutter überdies schwanger zu diesem Zeitpunkt. Stellen Sie sich vor, ein Säugling hätte geschrien, während die Nazis und ihre Handlanger dort auf der Suche nach versteckten Juden gewesen wären! Es hätte ihren Untergang bedeutet. Insofern ist das Schweigen von Anne Frank und ihrer Familie absolut verständlich.

1944 wurde das Versteck entdeckt, die Bewohner wurden deportiert. Vor zwei Jahren erregte das stark kritisierte Buch "Der Verrat an Anne Frank" Aufsehen, das die These von einem tatsächlichen Verrat des Unterschlupfs durch einen jüdischen Notar zu belegen behauptete. Was ist Ihre Ansicht?

Meine Mutter ist in ihrem letzten Lebensjahr von vielen Journalisten gefragt worden, was sie davon hält. Nicht viel. Ich selbst konnte das Buch vor seinem Erscheinen bereits lesen, ein Verrat ist doch recht unwahrscheinlich. Otto Frank hätte mehr dazu sagen können, aber er hat niemals darüber gesprochen.

Wie ist es Ihrer Mutter aber ergangen, nachdem die Franks ins Versteck gegangen waren?

Die Nazis sperrten meine Familie zunächst in das sogenannte Durchgangslager Westerbork. Sie brachten sie in Viehwaggons dahin, in Viehwaggons! Dabei gehörten diese Menschen schon zu den Glücklichen, die nicht bereits zuvor deportiert worden waren. Hannah kam in Westerbork mit ihrer Schwester Gabi ins Waisenhaus, weil ihre Mutter ja bereits verstorben war und sie nicht mit ihrem Vater zu den Männern konnten. Die Großeltern, meine Urgroßeltern, waren auch in Westerbork eingesperrt.

"Durchgangslager" ist ein verharmlosender Ausdruck für Westerbork. Die von dort Deportierten wurden zum Großteil im deutsch besetzten Osten ermordet.

Anne ist später mit ihrer Familie von Westerbork nach Auschwitz deportiert worden, richtig. Meine Mutter ist mit dem Vater Hans, ihrer Schwester Gabi und Großmutter Therese im Februar 1944 hingegen nach Bergen-Belsen gebracht worden. Mein Urgroßvater war schon in Westerbork gestorben.

Im Alter von vier Jahren hatte ihre Mutter Deutschland verlassen, nun verschleppten sie die Nationalsozialisten dort in ein Konzentrationslager.

In Bergen-Belsen ging es brutaler zu, die SS führte das Kommando. Meine Mutter kam ins "Austauschlager", weil mein Großvater früher durch Glück paraguayische Pässe hatte besorgen können. So hofften die Deutschen, diese sogenannten Schutzjuden noch austauschen zu können gegen eigene Kriegsgefangene. Aber selbst wenn in diesem Teil des Lagers die Bedingungen etwas besser waren: Für die SS-Leute war meine Mutter kein Mensch, nur eine Nummer. Sie schüchterten die Häftlinge ein und demütigten sie. Doch selbst an einem solchen Ort können kleine Wunder geschehen.

Weil Ihre Mutter dort Anne Frank wieder traf?

Es kling unglaublich, ist aber wahr: Anne war mit ihrer Schwester Margot von Auschwitz nach Bergen-Belsen gebracht worden, eine Frau aus Amsterdam, die die beiden kannte, erzählte es meiner Mutter. Unter großer Gefahr gelang es ihr, Kontakt aufzunehmen. Anne berichtete Entsetzliches, sie erzählte, dass in Auschwitz Menschen vergast würden. Meine Mutter konnte es kaum glauben. Leider hatten sie und Anne nur noch so wenig Zeit.

Bitte erzählen Sie etwas darüber.

Es war extrem gefährlich, in der Nähe des Lagerzauns miteinander zu sprechen – sie hätten erschossen werden können. Trotzdem warf meine Mutter Anne ein Päckchen mit etwas Essen herüber. Das war eine Geste großer Freundschaft, denn meine Mutter hungerte auch!

Anne Frank starb in Bergen-Belsen, genau wie Ihr Großvater und Ihre Urgroßmutter.

So ist es.

Ihre Mutter und Tante sperrte die SS hingegen angesichts der vorrückenden Alliierten in einen Zug, der als "Verlorener Zug" bekannt wurde.

Es war eine weitere böse Tat. Die Deutschen wollten die KZ-Häftlinge selbst angesichts des kommenden Kriegsendes weiter ins Innere des Landes bringen. Einmal bot während der Odyssee des Zuges ein deutscher Soldat meiner Tante einen Keks an. Sie fragte nur: "Was ist ein Keks?" In diesem Augenblick ahnte er vielleicht, was sein Volk unserem angetan hatte.

In Brandenburg endete dann die Fahrt des "Verlorenen Zuges" am 23. April 1945, Soldaten der Rote Armee befreiten die Häftlinge. Was berichtete Ihre Mutter über diesen Augenblick?

Die Befreiung war ganz anders, als sie sich das vorgestellt hatte. Die deutschen Bewacher hatten sich in der Dunkelheit davongemacht, sowjetische Soldaten dann verkündet, dass sie alle nun frei wären.

Lebensziel von Hannah Pick-Goslar war es, die Erinnerung an Ihre Freundin Anne Frank zu bewahren. Eine oft zitierte Stelle aus deren Tagebuch lautet: "Weil ich noch immer an das innere Gute im Menschen glaube." Gilt dieser Satz auch für Ihre Mutter?

Vielleicht hätte Anne diese Worte nicht geschrieben, wenn Sie zuvor Auschwitz gesehen hätte. Wer weiß. Fest steht, dass meine Mutter alles dafür tun wollte, damit solcher Hass nicht wieder entsteht. Sie glaubte daran, dass jeder Mensch Achtung und Respekt verdient, egal welche Religion, Hautfarbe oder welches Geschlecht er hat. Dafür hat sie gekämpft, reiste durch die Welt, um Annes und ihre Geschichte zu erzählen. Viele junge Menschen haben ihr zugehört. Und auch ihre eigene Familie. Als meine Mutter 2022 starb, konnte sie stolz auf drei Kinder, elf Enkelkinder und 31 Urenkel sein: Eine so große Familie, das war ihre Rache an Hitler, wie sie manchmal sagte.

Nun herrschen erneut Gewalt und Krieg etwa im Nahen Osten seit der Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober 2023. Wie kann das gestoppt werden?

Die Situation wird sich nur ändern, wenn man den palästinensischen Kindern beibringt, dass man Menschen – und in unserem Fall die Juden – nicht umbringt, sondern versuchen muss, miteinander zu sprechen und in Frieden zu leben. Wir können die Welt nicht von einem Tag auf der anderen ändern. Um sie aber überhaupt zu ändern, braucht es gute Menschen, die für ihre Überzeugungen einstehen und für Veränderung sorgen. Daran glaubte meine Mutter, daran glaube auch ich.

Frau Meir, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Ruthie Meier via Videokonferenz
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